Es gibt Ereignisse, die einschneidend sind. Die etwas in Bewegung bringen und die Chance auf Wachstum in sich tragen. Vor genau 4 Jahren durchlebte ich so ein Ereignis, eine lebensbedrohliche Erkrankung. Diese Erfahrung prägt mich bis heute. Und sie hat mich verändert.
Im systemischen Coaching gilt die These: Verändert sich eine Person im System, verändert sich das gesamte System. Optimistisch gelesen, könnte man meinen, das geschehe zum Guten. Meine Erfahrung ist: Leider nicht immer. Häufig genug merkst du, dass du und dein (bisheriges) System nicht mehr zusammenpassen.
Widerstände vergrößern sich. Andere halten lieber an ihren alten Regeln fest. Entwicklung? Reflexion? Gemeinsames Wachstum? Fehlanzeige. Doch davon solltest du dich nicht aufhalten lassen. Aus meiner bislang größten persönlichen Krise habe ich fünf Erkenntnisse mitgenommen:
1. Die Gesundheit hat Priorität. Immer.
Früher war mir das nicht in dieser Radikalität bewusst. Klar, Gesundheit war wichtig. Gelebt habe ich anders. Stattdessen habe ich Verantwortung an Stellen übernommen, wo sie nicht bei mir lag. Einfach, weil ich alles richtig machen und auf keinen Fall enttäuschen wollte. Was für ein Bullshit.
Ich übernahm unaufgefordert Aufgaben, sobald ich die Überforderung meines Gegenübers spürte. Ich habe helfen wollen, obwohl ich gar nicht darum gebeten worden war. Im Zweifel habe ich lieber meine eigenen Bedürfnisse zurückgestellt, als eine andere Person noch (zusätzlich) zu belasten. Ich habe mein Bestes gegeben – und Top-Ergebnisse abgeliefert.
Und was bekam ich dafür? Anerkennung, ja. Freundliche Dankesworte. Benefits. Meine (naive) Annahme, dass sich dadurch alles bessern würde, blieb unerfüllt. Ich musste lernen: Manche Menschen sind sehr geschickt darin, ihren eigenen Stress ungefiltert an andere abzugeben und ihre Verantwortung zu delegieren. Und das wollen sie auch nicht anders, denn sonst müssten sie ihre Verhaltensweisen reflektieren und – au backe! – womöglich auch noch ändern.
Heute zeige ich Grenzen auf. Anfangs freundlich und, wenn ich nicht gehört werde, auch in aller Deutlichkeit. Entscheidend ist für mich nicht, was eine Person sagt. Wesentlich ist, ob sie danach handelt. Das habe ich mir auch selbst auf die Fahnen geschrieben. Gesundheit nur auf dem Papier zu priorisieren, ist Selbsttäuschung. Ich habe es verdient, gut mit mir umzugehen.
2. Wer deine neu gewonnene Stärke ablehnt, hat wahrscheinlich von deiner Schwäche profitiert.
Es klingt hart, aber es ist eine der bittersten Wahrheiten, die ich in den letzten Jahren lernen musste. Solange ich mich klein gemacht habe, solange ich mich verunsichern ließ, solange ich still meine Kreise zog, war alles „harmonisch“. In dem Moment, in dem ich anfing, Grenzen zu ziehen und für mich einzustehen, änderte sich die Dynamik.
Plötzlich war ich unbequem. Ein Nein wurde als Attacke verstanden. Klarheit als Kälte oder gar Misstrauen interpretiert. Meine Entscheidung, Verantwortung da zu lassen, wo sie hingehört, und stattdessen für meine Bedürfnisse Verantwortung zu übernehmen, wurde als egoistisch eingeordnet. Einige Menschen, die von meiner bisherigen Aufopferungsbereitschaft profitiert hatten, reagierten mit Unverständnis, Rückzug oder sogar Angriff.
Nicht, weil ich mich falsch verhalten hatte – sondern weil sie in meiner Stärke eine Bedrohung sahen. Und weil sie nicht länger von meiner Schwäche zehren konnten.
Wer sich selbst klein fühlt, nährt sich von der Unsicherheit anderer. Funktioniert das nicht mehr, folgen Missachtung und Abwertung. Das tut weh. Aber ich betrachte es als Wachstumsschmerz. Nicht jede Beziehung trägt, wenn du dich weiterentwickelst. Manch eine funktioniert nur, solange du dich klein halten lässt.
Diese Form der Ablehnung ist kein Zeichen dafür, „zu viel“ geworden zu sein. Sie ist vielmehr ein Hinweis darauf, dass mein Gegenüber nicht bereit ist, den eigenen Anteil zu reflektieren. Das sagt viel über die andere Person – und nichts über meinen Wert.
3. Es ist okay, Menschen aus deinem Leben zu verabschieden.
Es werden die richtigen gehen. Immer. Auch wenn es im ersten Moment nicht so aussieht. Natürlich tut es weh, wenn jemand verschwindet, den du dir an deiner Seite gewünscht hast. Wenn du weggestoßen wirst. Besonders dann, wenn deine Vorstellung und die Realität so gar nicht zusammenpassen. Dann bleibt nur die Ent-Täuschung. Doch sie ist am Ende ein Gewinn.
Wer wirklich zu dir gehört, bleibt auch dann, wenn du dich veränderst. Wenn du Grenzen setzt. Wenn du nicht mehr die alte Rolle spielst. Wer geht, zeigt dir damit nur, dass es nicht passt. Nicht (mehr). Und vielleicht bist ja auch du es, die weiterzieht.
Früher habe ich versucht, festzuhalten, zu erklären, zu retten. Stattdessen lohnt es, das Loslassen zu lernen. Ohne Drama, ohne Rechtfertigung. Das Leben sortiert ehrlicher als jede Diskussion. Und manchmal ist die Lücke, die entsteht, genau der Raum, den du brauchst, um weiter zu wachsen.
4. Es werden neue Menschen in dein Leben treten.
Das passiert fast von selbst, sobald du beginnst, anders mit dir umzugehen. Deine innere Haltung verändert, wen du anziehst – und wen nicht mehr. Menschen, die vorher an dir vorbeigesehen hätten, bemerken dich plötzlich. Und diejenigen, die dich bisher kleinhalten konnten, verlieren das Interesse.
Und noch etwas verändert sich: dein eigener Blick. Sobald du alte Muster erkennst und veränderst, reagierst du auch auf andere Reize. Die neuen Verbindungen spiegeln, was du lebst: Klarheit, Grenzen, Selbstfürsorge.
Es ist ein ruhiges Glück, solche Begegnungen zu erleben. Kein Feuerwerk, kein Drama, eher ein Gefühl von: Hier stimmt die Basis. Heute weiß ich, dass jede Lücke, die durch Abschiede entstanden ist, Platz für genau diese Menschen geschaffen hat. Und ich vertraue darauf, dass noch weitere kommen werden – zur richtigen Zeit.
5. Selbstoptimierung ist etwas für Anfänger:innen.
Nach all den Veränderungen klingt das vielleicht widersprüchlich. Allerdings ist Entwicklung kein Marathon, den es zu gewinnen gilt. Sie passiert von allein – und manchmal heißt Entwicklung auch, einfach stehenzubleiben.
Lange Zeit dachte ich, es gäbe ein Ziel. Ein „Fertigsein“, ein „Jetzt passt alles“. Also schmiedete ich Pläne, erarbeitete Routinen, optimierte an mir herum. Das Ergebnis: Ich war ständig damit beschäftigt, besser werden zu wollen – und habe dabei übersehen, dass das Leben längst im Gange war.
Dabei geht es nicht darum, die perfekte Version von mir selbst zu bauen. Leben ist ein Prozess. Wachstum steckt im Menschen, aber es ist keine Pflicht. Rückschritte gehören genauso dazu wie Stillstand. Manchmal ist sogar genau das die höchste Form von Entwicklung: wenn gerade mal nichts vorangeht.
Es gibt Phasen, in denen nicht Leistung, Effizienz oder Fortschritt zählen, sondern das Überleben. Das Atemholen. Das schlichte „Ich bin noch da“. Wer so etwas erlebt hat, muss niemandem mehr etwas beweisen. Auch nicht sich selbst.
Das nimmt Druck. Es schenkt Gelassenheit. Und es macht Platz für das, was wirklich zählt: das Leben in seiner bunten und liebenswerten Unvollkommenheit.
Ich bin noch da. Was soll mich jetzt noch aufhalten?
Happy Second Birthday to me.

