Loyalität und Integrität – Warum Führung Mut braucht

Vor einigen Jahren habe ich in einem Blogbeitrag über den Film „Hannah Arendt“ von Margarethe von Trotta geschrieben. Damals ging es mir vor allem um das Loyalitäts-Dilemma, in dem sich die Figur Hannah Arendt befand: zwischen intellektueller Wahrhaftigkeit und der Loyalität zu ihren Freunden, die sich durch ihre Berichterstattung über den Eichmann-Prozess verletzt fühlten.

Dieses Spannungsfeld beschäftigt mich bis heute – nicht nur auf der philosophischen Ebene, sondern ganz konkret im Alltag: im Umgang mit Menschen, im Beruf, in der Führung. Dabei stellt sich mir vor allem eine Frage: Was bedeutet Loyalität heute in der Arbeitswelt, wo Integrität und Zivilcourage nicht selten auf die Probe gestellt werden?

Ein Moment aus der Schulzeit

Ich erinnere mich an eine Situation, die vieles davon in sich trägt: Während meiner Schulzeit behandelte ein Lehrer eine Mitschülerin unfair. Alle sahen es, alle schwiegen. Ich spürte, wie sich in mir ein Widerstand regte. Das Unrecht war für mich schwerer auszuhalten als das Risiko, selbst Kritik auf mich zu ziehen. Also sagte ich etwas und setzte mich für sie ein. Und tatsächlich durfte sie ihre Note mit einem Referat verbessern.

Am Ende des Schuljahres bekam ich selbst eine schlechtere Note als angekündigt. Ob es einen Zusammenhang gab, weiß ich nicht. Vielleicht. Wusste ich, dass ich es zumindest riskiert hatte? Irgendwie schon. Aber das Unwohlsein, einfach nichts zu sagen, war stärker. Ich hätte es nicht ertragen, stillzuhalten.

Was Loyalität für mich bedeutet

Seitdem hat sich vieles verändert, aber mein inneres Verständnis von Loyalität ist geblieben: Loyalität heißt für mich nicht, anderen nach dem Mund zu reden oder sich in Schweigen zu hüllen, wenn etwas Unangenehmes passiert. Sie heißt für mich, wahrhaftig zu bleiben – also ehrlich, respektvoll und verantwortungsbewusst zugleich.

Dieser Balanceakt gelingt nicht immer. Ehrlichkeit kann wehtun, und niemand weiß im Voraus, welche Worte bei anderen empfindliche Stellen treffen. Aber wer Loyalität nur als Schweigen, Abnicken und Heraushalten versteht, verliert irgendwann die Verbindung zur eigenen Integrität.

Loyalität ist keine Gefolgschaft

Gerade in Organisationen wird Loyalität oft missverstanden. Viele setzen sie mit Gefolgschaft gleich: Man soll loyal nach oben sein, Entscheidungen mittragen, auch wenn man sie nicht teilt. Doch echte Loyalität hat in meinen Augen nichts mit Gehorsam zu tun. Sie beruht auf Vertrauen und gegenseitiger Verantwortung.

Im Von-Trotta-Film hat Hannah Arendt mir das sehr klar vor Augen geführt. In der Kontroverse um ihre Texte zum Eichmann-Prozess wurde sie von ihren Freunden scharf kritisiert, die ihre Sicht als Verrat empfanden. Doch Arendt blieb ihrer Überzeugung treu – nicht aus Sturheit, sondern aus intellektueller Redlichkeit.

Ihre Loyalität galt der Wahrheitssuche, nicht der Zustimmung anderer. Das zeigt: Wo Integrität fehlt, wird Loyalität zur Maske. Die mag kurzfristig schützen, untergräbt aber auf Dauer jede vertrauensvolle Beziehung, ob privat oder beruflich. 

Führung braucht Zivilcourage

Gerade in der Führung begegnen uns ähnliche Loyalitätsdilemmata. Führungskräfte stehen ständig zwischen Erwartungen, Druck und eigenen Überzeugungen. Wer führen will, muss entscheiden, wem er oder sie letztlich verpflichtet ist: den Vorgesetzten, den Kennzahlen, dem eigenen Wertebewusstsein.

Zivilcourage in der Führung zeigt sich nicht darin, laut zu werden oder ständig zu opponieren. Sie zeigt sich in stillen Momenten, in denen man trotz Risiko das Richtige tut:

  • Wenn eine Mitarbeiterin systematisch übergangen wird.
  • Wenn ein Fehler vertuscht werden soll, „um die Kundschaft nicht zu verunsichern“.
  • Wenn Entscheidungen getroffen werden, die zwar kurzfristig gut aussehen, langfristig aber Vertrauen zerstören.

Wer in solchen Situationen schweigt, schützt vielleicht das eigene Ansehen, gefährdet gleichzeitig aber die moralische Glaubwürdigkeit des gesamten Systems. Zivilcourage ist in Unternehmen selten geworden, weil viele gelernt haben, dass Widerspruch unbequem ist. Und dass die ehrliche Rückmeldung bei ihren Vorgesetzten oft leider nicht honoriert wird. Im Gegenteil. Doch ohne Widerspruch kann keine echte Integrität bestehen.

Loyalität bedeutet Verantwortung

Wahrhaftige Loyalität bedeutet, sich für das einzusetzen, was richtig ist – nicht für das, was bequem ist. Führung bedeutet für mich daher, Verantwortung zu übernehmen. Nicht nur für Ergebnisse, sondern auch für das ethische Fundament, auf dem sie stehen. Das erfordert Integrität, Wertebewusstsein und die Bereitschaft, Konflikte auszuhalten.

Loyalität, die alles deckt, was intern passiert, ist keine Stärke. Sie ist schal und steht für moralische Kurzsichtigkeit. Echte Loyalität entsteht dort, wo Menschen sich sicher fühlen, ehrlich sein zu dürfen. Wo Kritik nicht als Bedrohung, sondern als Zeichen von Vertrauen verstanden wird. Führungskräfte, die diesen Raum schaffen, stärken nicht nur ihr Team. Sie schaffen eine Kultur, in der Integrität gelebt und nicht nur erwartet wird.

Zwischen Mut und Maß

Natürlich lässt sich Zivilcourage nicht verordnen. Und Loyalität bedeutet nicht, jede Auseinandersetzung öffentlich auszutragen. Es geht um das richtige Maß: den Mut, Unrecht zu benennen – mit Respekt, ohne Eitelkeit, aber mit Integrität. Vielleicht ist Loyalität im Kern genau das: der Versuch, ehrlich zu bleiben, ohne zu verletzen – wohl wissend, dass das nie ganz gelingen kann.

Wir wissen selten, welche Worte bei anderen wunde Punkte berühren. Aber Schweigen aus Angst vor möglichen Reaktionen wäre auch keine Lösung.

Führung beginnt nicht mit der Visitenkarte, sondern mit Wertebewusstsein und Integrität. Wer Loyalität fordert, muss Wahrhaftigkeit zulassen. Wer Zivilcourage lebt, riskiert vielleicht Sympathien, gewinnt dafür aber Vertrauen. Um es mit Hannah Arendt zu sagen:

„Verantwortlich ist man immer, auch wenn man nur gehorcht.“

 

 

 

Titelfoto: Canva

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