Eine Frau liegt am Boden. Nackt. Schutzlos. Gedemütigt. Mit Kreide hat sie die Zahl der Tage aufs Parkett gezeichnet – die Tage, die sie bereits ertragen muss, was ihr widerfahren ist. Der Peiniger, ein Mann aus ihrem direkten Umfeld, wird davonkommen. Im Zweifel für den Angeklagten. Sie nicht. Sie bleibt in ihrem unsichtbaren Gefängnis gefangen, als Überlebende sexualisierter Gewalt.
Mit diesem bedrückenden Bild im kargen Bühnenraum des Kammertheaters eröffnet Regisseurin Carola von Seckendorff den zweiten Teil ihrer Inszenierung „Prima Facie“ im Kleinen Bühnenboden. In der Hauptrolle des eindrucksvollen Solo-Stücks: Maria Goldmann.
Von Leichtigkeit zu Brutalität
Kaum eine Stunde zuvor haben die Zuschauer:innen in der Bar „Bei Ute brennt noch Licht“ gelacht, sich an der Lebendigkeit und dem teils überdrehten Spiel Goldmanns erfreut. Dann kam der Bruch: Aus Flirt wurde Ernst. Aus Leichtigkeit wurden mit einem Wimpernschlag Brutalität, Angst und Grenzüberschreitung. Plötzlich hält der anfangs so heitere Theaterabend der Gesellschaft einen Spiegel vor.
„Prima Facie“ ist ein packendes Ein-Personen-Stück der australischen Autorin Suzie Miller, das in der von Seckendorff’schen Interpretation bereits im Juni 2024 in der Schillerstraße Premiere feierte. Im Mittelpunkt steht Tessa Ensler, eine brillante Strafverteidigerin aus einfachen Verhältnissen, die sich mit Ehrgeiz und Talent bis an die Spitze einer renommierten Londoner Kanzlei gearbeitet hat.
Ihr Spezialgebiet: die Verteidigung von Männern, die der sexualisierten Gewalt angeklagt sind. Für Tessa ist der Gerichtssaal ein Spielfeld. Sie kennt jede Lücke im System und weiß, wie sie sie für ihre Mandanten nutzen kann.
Der Fall, der alles verändert
Ihr souveräner Alltag bricht zusammen, als sie selbst Opfer einer Vergewaltigung durch einen Kollegen wird. Plötzlich steht sie nicht mehr am Verteidigertisch, sondern erlebt die Rolle der Zeugin – und wird im Kreuzverhör mit denselben Methoden konfrontiert, die sie einst selbst eingesetzt hat.
Was sie für ein faires, logisches System hielt, entpuppt sich als strukturell benachteiligend und traumatisierend für Betroffene. Die dichte Form des Monologs lässt das Publikum tief in Tessas Innenleben eintauchen: von anfänglicher Selbstsicherheit über schleichende Erschütterung bis hin zum radikalen Wandel ihres Blicks auf das Rechtssystem.
Perspektivwechsel
Mit der Entscheidung für zwei kontrastierende Spielorte – die vertraute Kneipe in der Nachbarschaft und den kargen Kunstraum des Bühnenbodens – gelingt Carola von Seckendorff ein kleiner Geniestreich. Mit wenigen, gezielt eingesetzten Mitteln zieht sie das Publikum in den Sog der Geschichte. Zunächst mag man sich noch in einer Art komplizenhafter Statistenrolle wähnen, doch im Bühnenraum verwandelt sich diese Position in die beklemmende Perspektive einer voyeuristischen Geschworenenbank.
Maria Goldmann gestaltet ihre Tessa vielschichtig und mit großer innerer Spannkraft. Wirkt sie zu Beginn auf eine seltsam distanzierte Weise unnahbar, entfaltet der zweite Teil eine umso größere emotionale Wucht – und geht tief unter die Haut.
Mehr als ein Theaterabend
„Prima Facie“ ist mehr als ein Theaterabend. Es ist ein Plädoyer für die Rechte der Opfer sexualisierter Gewalt, gegen Mechanismen des Victim Blaming und gegen eine Kultur, die Täter schützt. Die klare Sprache, eine präzise Figurenzeichnung und emotionale Spannung machen das Stück zu einem Erlebnis, das lange nachwirkt.
Eines macht Maria Goldmann in der Rolle der Tessa deutlich: Sie ist kein Opfer, sie ist noch da. Eine Überlebende. Im Zweifel lebenslang.
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Das Stück ist im Kleinen Bühnenboden noch am 12. Oktober 2025 zu sehen. Hoffentlich nicht zum letzten Mal! Zu den Tickets geht es hier entlang.
Pressefotos: Hanna Neander