„Wenn ich die Augen zumache, kann mich niemand sehen“ – dass diese Hoffnung enttäuscht werden muss, lernen Kinder früh. Wovor wir die Augen verschließen, wird dadurch nicht ungeschehen. Doch manchmal ist das Hinschauen zu schmerzlich, eine mögliche Nachricht zu niederschmetternd, sodass die Flucht davor umso verlockender erscheint. Im Roman „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“ von David Grossman verschafft sich die Protagonistin eine Verschnaufpause, indem sie auf Wanderschaft geht. Sie nutzt diese „Auszeit“, um das (Hin-)Sehen neu zu lernen.
Böse Vorahnungen
Das Buch erzählt von Ora, einer Mutter, die sich verzweifelt der Realität entziehen will – und dabei doch nicht vor ihr fliehen kann. Ihr zweiter Sohn Ofer geht freiwillig zu einem Militäreinsatz ins Westjordanland. Böse Vorahnungen und Erinnerungen an vergangene blutige Auseinandersetzungen lassen Ora fortan nicht mehr los. Sie fürchtet das Schlimmste und will sich auf diesen „Deal“, wie sie es nennt, gar nicht erst einlassen: „[D]ieser einseitige Deal, der festlegt, dass sie, Ora, bereit ist, von ihnen [dem Staat, der Armee und der Regierung] die Nachricht vom Tod ihres Sohnes entgegenzunehmen.“
Stattdessen macht sie sich davon. Weit fort von einer möglichen Nachricht, fort auch vom rechtlichen Vater des Jungen, Ilan. Hinein in eine Art Zwischenwelt, die sie mit Avram, dem leiblichen Vater, beschreiten möchte. Ab aufs Land, in die Natur, weit weg von Fernsehen, Radio und anderen Medienkanälen. Zunächst widerwillig, irgendwann schicksalsergeben, schließlich aktiv gestaltend, lässt sich Avram nach und nach auf das gemeinsame Durchschreiten einer oft unwirtlichen Landschaft sowie gemeinsamer Erinnerungen ein.
Ora hofft insgeheim, Ofer durch ihr bloßes Erzählen am Leben halten zu können. Was sie allerdings nicht eingeplant zu haben scheint: Ihre Vergangenheit und Ängste reisen stets mit im Gepäck. Und der Schmerz bleibt, ob sie ihn ansieht oder nicht.
Zentrales Leitmotiv
Bereits auf den ersten Seiten, später aber auch im Verlauf des Romans begegnet mir immer wieder ein zentrales Leitmotiv: das Sehen und Nicht-sehen-Wollen. Es ist das Thema, das sich durch sämtliche Erzählstränge zieht. Da ist das Treffen der drei jugendlichen Protagonist:innen, die sich zunächst im Dunkeln verständigen müssen und erst später (im wahrsten Sinne) zu Gesicht bekommen. Da ist die zeitweise Unfähigkeit (oder -willigkeit?), eine Situation durch die Augen Andersdenkender zu sehen. Derer, die zwangsläufig im Konflikt eine andere Perspektive einnehmen. Da sind die zahlreichen Erinnerungen, in denen Informationen über Blicke getauscht werden, weil das gesprochene Wort nicht ausreicht.
Ora weigert sich, die Möglichkeit des Todes ihres Sohnes zu akzeptieren. Gleichzeitig zwingt sie ihren Weggefährten Avram, sich mit seiner eigenen verdrängten Vergangenheit auseinanderzusetzen. Dabei erzählt Grossman nicht linear, sondern verwebt verschiedene Zeitebenen kunstvoll miteinander. Die Vergangenheit und die Gegenwart überlappen, Erinnerungen durchbrechen das Jetzt.
Intensives Kammerspiel
Besonders auffällig fand ich die ersten Szenen: fast wie ein Kammerspiel inszeniert, mit kurzen, schnellen Dialogen, die mehr andeuten als aussprechen. Diese Abschnitte erinnern an ein Drama – intensiv, direkt und roh. Erst nach und nach entfaltet der Roman eine breitere Erzählweise, die zwischen Oras Wanderung und ihrer Lebensgeschichte in der Rückschau wechselt. Das Buch hat mich über Wochen begleitet, oft gefordert und dennoch nicht losgelassen. Es ist keine einfache Lektüre, sondern eine, auf die du dich einlassen wollen musst.
Sprachlich ist der Text ein Hochgenuss. Es gibt zahlreiche Stellen, die ich mir allein deswegen markierte, weil mich die Bilder und sprachlichen Wendungen so gepackt haben. „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“ ist ein Roman, der schmerzhaft, poetisch und schonungslos ehrlich ist. Die Botschaft: Manchmal gibt es keinen Ausweg – aber immer gibt es das Erzählen, das Erinnern, das Hinsehen. Eine Leseempfehlung für die Langmutigen – oder die, die dazu werden wollen.