Sie steht dafür, im Einklang mit den eigenen Werten zu handeln: Wahrhaftigkeit. Konflikte bleiben in einem wahrhaftigen Leben nicht aus – sowohl innere als auch äußere. Innere Führung und Integrität helfen dir dabei, dich selbst nicht aus den Augen zu verlieren und die besseren Entscheidungen zu treffen.
Kennst du Personen, die groß in Worten sind, ihre eigenen Tugenden gerne hervorheben und die dann, wenn es ernst wird, ihr Fähnchen doch nur nach dem Wind richten? Vielleicht warst du aber auch selbst schon in einer Situation, in der du gewaltig unter Druck standest, weil jemand von dir etwas verlangte, das nicht mit deinen Überzeugungen vereinbar war? Oder wo du in einer Beziehung eine Entscheidung treffen musstest, in der widerstreitende Gefühle miteinander kämpften, sodass du nicht wusstest, was richtig ist?
Wann immer es zu Werte- und Loyalitätskonflikten kommt, gehen die einen den vermeintlich einfachen Weg, während andere sich gerade nicht verbiegen lassen – allen Widerständen zum Trotz. Wer uns ehrlich begegnet, sich integer sowie verlässlich verhält und zu dem steht, was er oder sie sagt, kann als wahrhaftiger Mensch bezeichnet werden. Was aber verbirgt sich hinter diesem Begriff und warum sollte Wahrhaftigkeit für dich von Bedeutung sein?
Wahrhaftig ist nicht gleich authentisch
Um das zu verdeutlichen, möchte ich ein wenig ausholen. Oft werden Wahrhaftigkeit und Authentizität gleichgesetzt. Authentisch kann mit „echt“ übersetzt werden. So gilt ein Dokument als authentisch, sobald dessen Echtheit von offizieller Seite bestätigt wurde. Der Duden beschreibt den Begriff als „den Tatsachen entsprechend und daher glaubwürdig“. Dem Substantiv Authentizität stellt das Lexikon die Begriffe Glaubwürdigkeit, Sicherheit und Verlässlichkeit zur Seite. Authentisch ist demnach, wer sich nicht verstellt.
Häufig werden Authentizität und Wahrhaftigkeit synonym verwendet. Für mich sind die beiden Begriffe nicht scharf zu trennen. Gleichwohl geht das wahrhaftige Leben über ein bloß authentisches hinaus. Authentisch ist eine Person auch dann, wenn sie andere gerne übervorteilt – und genau das dann tut. Oder wenn sie einer inneren „Wahrheit“ folgt, keiner logischen und die unterbewussten Gründe für das Verhalten nicht reflektiert. Aber ist ein solcher Mensch auch wahrhaftig? Nicht in meiner Welt.
Es müssen andere Merkmale her, die meine Sicht verdeutlichen. Wieder hilft ein Blick in den Duden. Hier tauchen nun weitere verwandte Wörter auf: Wahrhaftigkeit wird unter anderem umschrieben mit Loyalität, Rechtschaffenheit und Wahrheitsliebe. Rechtschaffen ist eine Person nicht, die sich – wie im genannten Beispiel – geltenden Regeln widersetzt und anderen schadet. Mit der Wahrheit hält sie es vielleicht ebenfalls nicht so genau – auch wenn sie authentisch handelt. Ihre Loyalität könnte man ihr ebenfalls absprechen wollen. Sinngleich sind Wahrhaftigkeit und Authentizität demnach nicht.
Wahrhaftigkeit auf der Bühne
Zu meiner Zeit am Theater in den 2000er-Jahren lernte ich ein weiteres Bedeutungsfeld von Wahrhaftigkeit kennen. Von „wahrhaftigem Spiel“ war damals oft die Rede, wenn ein:e Darsteller:in vollkommen in einer Rolle aufging, jede künstliche Attitüde fehlte und zwischen der Person auf der Bühne mit ihrem Publikum ein intensiver emotionaler Dialog entstand.
Das Gegenteil von echter, wahrhaftiger Schauspielkunst ist das bloße „Herstellen“ von Gefühlen. „Geh nochmal in die Szene, ich glaube dir noch nicht“ – ein häufig verwendeter Satz seitens der Regie. Wie oben beschrieben, hat es auch in diesem Zusammenhang viel mit Glaubwürdigkeit zu tun, ob jemand wahrhaftig wirkt oder nicht.
Nun verkörpern Darsteller:innen Rollen, die so ganz anders sind als die jeweilige Privatperson. Es ist also möglich, wahrhaftig zu sein, obwohl man gleichzeitig nicht authentisch ist. Für mich liegt der Schlüssel dafür in der unausgesprochenen Verabredung zwischen Bühne und Publikum: Alle wissen, dass es ein Spiel ist. Dieses Wissen vorausgesetzt, kann die Darstellung wahrhaftig sein. Im Sinne der Erzählung – und der jeweiligen Rolle.
Wahrhaftigkeit im Buddhismus
Auch andere Quellen helfen, Wahrhaftigkeit besser zu verstehen, zum Beispiel religiöse Weltanschauungen. Im Buddhismus steht Wahrhaftigkeit für die Saat, die in der Wahrheit verwurzelt ist und zu höherer Wahrheit führt. Sie wird eng mit dem Mitgefühl verbunden und ist ein Ideal, nach dem mensch zwar streben kann, das im irdischen Leben vermutlich aber nur schwer erreichbar ist.
Sich an Utopien zu orientieren, ist herausfordernd. Nicht aber, wenn du dich an die österreichische Autorin Ingeborg Bachmann (1926-1973) hältst. Sie sagte: „Utopie ist Bewegung.“ Das bedeutet, in der Vorstellung eines Ideals einen Ansporn zu sehen und sich in die richtige Richtung zu entwickeln. Der Wert liegt bereits auf dem Weg dorthin. Wahrhaftigkeit bedeutet demnach nicht, jederzeit die Bestleistung abliefern zu müssen, was der Begriff Utopie zunächst nahelegt. Das würde bedeuten, sich permanent zu vergleichen und im Grunde nie zufrieden zu leben.
Vielmehr geht es darum, an jedem Tag die bestmögliche Version deiner selbst zu sein – wahrhaftig, mit allen Ecken und Kanten, Unsicherheiten und Defiziten. In diesem Zusammenhang finde ich Mitgefühl sehr wichtig, nämlich dein Mitgefühl mit dir selbst. So schließt sich der Kreis zwischen Moderne und Buddhismus.
Wahrhaftigkeit bedeutet harmonisch zu leben
Um es auf den Punkt zu bringen: Wahrhaftig bist du in meinen Augen dann, wenn dein Denken, Fühlen, Handeln und Sprechen in Harmonie sind. Weil du ein Mensch bist, kannst du auch widersprüchliche Impulse in dir tragen. Hingegen ist es nicht notwendig, immer alles auszusprechen, was du denkst, um wahrhaftig zu sein. In manchen Situationen – zum Beispiel im Berufsleben – könnte dir das sogar massiv schaden.
In so einem Kontext gilt es abzuwägen. Ehrlichkeit ist ein hohes Gut. Respekt und Fürsorge aber ebenfalls. Es kommt nicht nur darauf an zu wissen, von was du überzeugt bist und was die Leitplanken deines Handelns sind, sondern auch wie du das zum Ausdruck bringst. Um wahrhaftig mit dir im Einklang zu sein, gilt es, den jeweiligen Bezugsrahmen zu berücksichtigen.
In einem philosophischen Sinne heißt wahrhaftig zu leben, das auszudrücken, was du als wahr erkannt hast. Diese Sichtweise setzt die Erkenntnis dessen voraus. Was im Coaching als Wert oder Handlungsmotiv bezeichnet wird, ist jedoch keineswegs immer bewusst und präsent. Oft handelst du nach Werten, ohne genau zu wissen, welche Regeln du in dir trägst – und woher sie stammen.
Deine Werte als Schlüssel zur Wahrhaftigkeit
Ich verstehe unter Werten tiefe Überzeugungen, die in dir fest verankert sind und in gewisser Weise dein gesamtes Wesen durchdringen. Sie geben deinem Wirken Sinn und Bedeutung. Man könnte auch sagen, sie bilden dein Betriebssystem, das allem anderen zugrunde liegt. Nach deinen Werten beurteilst du, was du als gut empfindest und für erstrebenswert hältst.
Daneben wirken in dir individuelle Handlungsmotive, die gewissermaßen der Treibstoff für dein Wirken sind. Handelst du im Einklang mit ihnen, wirst du ihre Energie sehr wahrscheinlich sofort spüren. Verhältst du dich im Widerspruch dazu, fühlst du dich ausgebremst, als hätte jemand die Treibstoffleitung abgedrückt oder sogar ganz gekappt.
Obwohl Werte und Motive grundlegend für dich sind, kommt es vor, dass andere Programme sie überschrieben haben. Das können Glaubenssätze sein, die über Jahre in dir gewachsen sind – durch Erziehung, Erfahrungen oder gesellschaftliche Einflüsse. Es können aber auch Erwartungen sein, die von außen an dich herangetragen werden. Ängste, falsche Vorstellungen, Blockaden aller Art, die dich glauben lassen, dich anders verhalten zu müssen, als es deinem wahrhaftigen Wesen entspricht.
Stehen diese Betriebsprogramme im Widerspruch zu deinen Werten und Motiven, wirst du starke innere Konflikte spüren. Sich widerstreitende Gefühle führen zu kognitiver Dissonanz. Damit ist ein sehr unangenehmer Gefühlszustand gemeint, bei dem mehrere, zunächst unvereinbare Gefühle gleichzeitig in dir existieren. Das Wissen über deine inneren Strukturen kann dir helfen, die inneren Blockaden zu erkennen und aufzulösen.
Entscheidend ist zu verstehen, dass du die Gefühle, mit denen du auf eine Situation reagierst, selbst erzeugst. Es mag äußere Anlässe und Einflüsse gegeben haben, die dich zu dem machten, was du bist. Heute aber gibt es nur eine Person, die bestimmt, wie du dein Leben gestalten willst: Dich! Ohne Eigenverantwortung geht es nicht. Eigenverantwortung und Wahrhaftigkeit sind untrennbar miteinander verbunden.
Wahrhaftigkeit braucht Mut
Wahrhaftig zu leben bedeutet auch, den Mut aufzubringen, zu sich selbst zu stehen – selbst dann, wenn es unbequem wird. Wenn deine Meinung nicht den Ansichten der Gruppe entspricht. Wenn du in einer Beziehung etwas benennst, das dein Gegenüber lieber verdrängt hätte. Wenn du in einer beruflichen Situation Haltung zeigst, obwohl es einfacher wäre zu schweigen.
Wahrhaftigkeit verlangt in solchen Momenten mehr als innere Klarheit. Sie verlangt Entschlossenheit. Es braucht Mut, für die eigenen Werte einzustehen – auch auf die Gefahr hin, anzuecken oder verletzt zu werden. Und es braucht Selbstreflexion. Nur wenn du dir selbst wirklich begegnest, wenn du dir deiner Gedanken, Gefühle und Beweggründe bewusst wirst, kannst du erkennen, was für dich wahr ist. Wahrhaftigkeit beginnt immer in der ehrlichen Auseinandersetzung mit dir selbst.
Manchmal entsteht dabei das Gefühl, allein zu sein. Weil du spürst, dass du dich nicht mehr anpasst und dass du Dinge anders siehst als andere. In Wirklichkeit macht dich Wahrhaftigkeit innerlich unabhängig. Und gerade dadurch ziehst du Menschen an, die wirklich zu dir passen – nicht zu einer Rolle, die du spielst.
Widerstände gehören dazu. Es wird immer Menschen geben, die versuchen, dich von ihrer Sichtweise zu überzeugen. Oder von dir ein Verhalten erwarten, das ihren Vorstellungen entspricht. Gerade dann ist es hilfreich, innerlich klar zu sein: Was ist meine Grenze? Wofür stehe ich – und wofür nicht? Du darfst dich respektvoll abgrenzen. Du darfst höflich Nein sagen. Du darfst du selbst sein. Mut heißt nicht, keine Angst zu haben. Sondern sie auszuhalten und dennoch zu handeln. Im Einklang mit deinen Werten.
Wahrhaftig leben heißt eigenverantwortlich leben
Um wahrhaftig nach außen zu leben, gilt es daher, zunächst dir selbst gegenüber wahrhaftig zu sein, dich gründlich zu erforschen und deinen widerstreitenden inneren Stimmen zuzuhören. Es ist notwendig, sie zu überprüfen und deine wesentlichen Werte herauszuarbeiten. Wesentlich, weil sie deinen Wesenskern bilden und künftig dein Handeln bestimmen.
Die Kernfrage lautet: Was für ein Mensch möchtest du sein? Was du für ein wahrhaftiges Leben brauchst, steckt längst in dir, davon bin ich überzeugt. Vielleicht ist es endlich an der Zeit, es jetzt auch selbstbewusst im Außen zu zeigen – im Einklang mit deinen Werten und Überzeugungen. Herausforderungen wirst du auch künftig erleben. Allerdings weißt du dann, wie du ihnen mit Klarheit, Integrität und innerer Stärke begegnen kannst.