[Rezension] „Am Leben bleiben“ von Wolfram Gössling

Der Onkologe Wolfram Gössling unterstützte als Krebsarzt zahlreiche Patient:innen, dann erkrankte er selbst an Krebs. In seinem Buch „Am Leben bleiben“ schildert er seine eigene Krankheitsgeschichte sowie den Perspektivwechsel, den er als Mediziner durch sein Schicksal erhielt. Ein Buch, das ich allen Onkolog:innen als Lektüre ans Herz legen möchte.

Erschütternde Diagnose

Wolfram Gössling ist 45 Jahre alt, als eine Diagnose sein Leben maßgeblich verändert: Angiosarkom im Gesicht. Der Onkologe weiß auch ohne Google, was das für ihn bedeuten kann. Die Überlebensrate dieser seltenen und häufig sehr aggressiv verlaufenden Krebsform ist erschütternd, mögliche Behandlungen kaum erforscht. Um ihm zu helfen, greift das medizinische Team auf Kenntnisse zu anderen Krebsarten zurück.

Der Tumor wird großflächig entfernt, Gösslings Gesicht so gut es geht rekonstruiert. Es folgen Bestrahlung und quälende Schmerzen. Gössling überlebt, doch Jahre später kehrt der Krebs zurück und das Drama beginnt von vorn – diesmal auf der anderen Gesichtshälfte. Und auch diesmal verlässt der Mediziner den Ort des Geschehens als krebsfrei. Nicht nur optisch hat ihn die Erkrankung verändert.

Perspektivwechsel

Was er bislang als Außenstehender, nämlich als Arzt, beobachten konnte, erfährt Gössling während der Therapie am eigenen Leib: Todesangst, extreme Nebenwirkungen, Ohnmacht und ein Privatleben, das nicht mehr so sein kann, wie er es bislang gewohnt war. Bei all dem, was er erlebt, ist es schwer, eine positive Einstellung zu behalten, doch Gössling gelingt auch das. In seinem Buch nimmt er uns als Leser:innen mit auf diese Reise seiner persönlichen Entwicklung.

„Positives Denken scheint nicht nur die Lebensqualität, sondern auch die Dauer des Lebens zu beeinflussen. Gleichzeitig muss man aber auch ehrlich sein und den Tatsachen ins Auge blicken – es ist eine sehr schwierige Gratwanderung“, stellt er fest. Die wichtigste Erkenntnis dabei: Neben der medizinischen Unterstützung braucht es Verständnis, Einfühlung und vertrauenvolle Kommunikation zwischen Arzt/Ärztin und Patient:innen.

Helfen und zuhören

Dafür ist im Gesundheitssystem allerdings oft zu wenig Zeit. Ein Umstand, der sich dringend ändern muss. „Das Gefühl der Verlassenheit ist keine psychische Schwäche, die den einen ergreift und den anderen verschont“, schreibt Gössling. „Dieses Gefühl ist Teil der Krankheit.“ Es sei lebenswichtig dagegen anzugehen. „Als Patient muss ich davon überzeugt sein, dass jemand da ist, der hilft und zuhört.“

Während Gössling vor seiner Diagnose dachte, solch ein Arzt zu sein, sieht er jetzt auch eigene Defizite im Umgang mit Betroffenen. „Für den Krebspatienten ist die Vorstellung, das Leben zu verlieren, zu sterben, extrem präsent. Sie ist niederschmetternd. Nicht nur, dass es unmöglich ist, den nächsten oder übernächsten Tag zu planen, man befürchtet, überhaupt keine Zukunft mehr zu haben“, schreibt er.

Überleben, nicht vervollkommnen

Damit gilt es während der Therapie empathisch und professionell umzugehen. Wer mit Krebserkrankten arbeitet, kann von Gössling eine Menge lernen. Und auch für Betroffene möchte ich das Buch empfehlen. Es macht Mut, auch in einer scheinbar aussichtslosen Situation nicht die Hoffnung zu verlieren. Denn nicht auf die Statistik komme es an, sondern auf jeden Einzelfall, ist Gössling überzeugt. Positives Denken könne jeden Heilungsprozess unterstützen.

Von überzogenen Erwartungen an sich selbst sowie einen ungesunden Fokus auf Selbstoptimierung während und nach der Krebserkrankungn rät er hingegen ab: „Die entschiedenste Reaktion auf den Krebs und den der Sinn eines Kampfes gegen ihn bestehen darin, zu überleben, nicht darin, sich zu vervollkommnen.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

 

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