Mit „Stay away from Gretchen“ ist Susanne Abel ein großer Wurf gelungen. Geschickt verbindet sie gut recherchierte Fakten mit der fiktiven Erzählung um den Kölner Nachrichtenmoderator Tom Monderath sowie seine 84-jährige Mutter Greta. Als sie an Demenz erkrankt, brechen alte Erinnerungen auf. In der Auseinandersetzung mit Gretas Vergangenheit kommt Tom einem lang verborgenen Familiengeheimnis auf die Spur. Als Leserin wollte ich den Roman fast nicht aus der Hand legen.
Fehlende Großväter
Es ist eher selten so, dass ich Romane rezensiere, die bereits von so vielen Menschen vor mir besprochen worden sind und längst auf Bestseller-Listen stehen. Und doch hat mich dieses Buch ganz besonders berührt. Das mag daran liegen, dass auch meine Familie – wie viele andere – bis heute vom Kriegs- sowie Nachkriegsgeschehen beeinflusst ist. Im Kern geht es um eine Leerstelle: den fehlenden Großvater. In meinem Fall ist der Großvater mütterlicherseits unbekannt.
Meine Omi zog ihre Tochter im Nachkriegsdeutschland als Alleinerziehende ohne den dazugehörigen Erzeuger auf. Ich habe nur eine vage Vorstellung davon, was das zu dieser Zeit für die Betroffenen bedeutete. Kein Wunder, dass ich beim Lesen dieses Buches gedanklich Parallelen zog. Auch musste ich an die sehr empfehlenswerten Bücher von Sabine Bode denken, „Die vergessene Generation“ und „Kriegsenkel“, die das große Schweigen über Familiengeheimnisse journalistisch sehr gut aufgearbeitet hat.
Rassistisches Umfeld
Doch Autorin Susanne Abel verquickt nicht nur diese Themen in ihrem Plot. Im Zentrum ihrer Erzählung steht ein bis heute unterbelichteter Aspekt der Nachkriegsforschung: die sogenannten „Brown Babys“ und der Rassismus, der den Umgang mit ihnen prägte. Frauen, die sich mit Soldaten der Alliierten einließen, gab es viele. Selbst das war nicht immer gerne gesehen. Wer jedoch eine Beziehung zu einem Schwarzen einging, erfuhr ganz besondere Ablehnung, nicht zuletzt auch aus dem eigenen Umfeld.
Im Roman wird die Leserschaft Schritt für Schritt – und mit fortschreitender Demenz – immer tiefer in Gretas Vergangenheit hineingezogen und mit ihrem Schmerz konfrontiert. Bemerkenswert ist zu beobachten, wie sich angesicht der aufkeimenden neue Erkenntnisse Gretas Sohn Tom, eine zutiefst bindungsunwillige Persönlichkeit, zunehmend öffnet und vom Unsympathen zum Familienmenschen wandelt.
Ich möchte nicht zuviel verraten, nur das: Wer sich auf die Erzählung einlässt, wird nicht nur viel über die Kriegs- und Nachkriegsgenerationen lernen können, sondern möglicherweise auch die eigene Familiengeschichte aus einem neuen Blickwinkel betrachten. Gleichzeitig hat mich das Buch in Bezug auf Rassismen weiter sensibilisiert. Beides – sowie das uneingeschränkt positive Leseerlebnis an sich – empfinde ich als großen Gewinn. Lesen!