[Rezension] Der Pferdeflüsterer – Nicholas Evans

Ein schrecklicher Unfall verändert das Leben von Annie und ihrer Tochter Grace auf tragische Weise. Grace verliert dabei nicht nur ihre beste Freundin Judith und ihren Unterschenkel, sondern zudem noch ihren Lebensmut. Mit Pilgrim, Graces Pferd, das ebenfalls vom Unfall schwer gezeichnet wurde, sieht es nicht viel anders aus. Doch trotz seiner schweren Verletzungen entscheidet sich Annie, das Tier nicht einschläfern zu lassen. Stattdessen bringt sie ihre Tochter und den traumatisierten Pilgrim zu Tom Booker. Dieser soll auf geradezu magische Weise mit Pferden kommunizieren können.

Vor wenigen Wochen habe ich meine Bücherregale sortiert. Über die Zeit war dort Chaos ausgebrochen und ich hatte ein wenig den Überblick verloren, welche Schätze ich noch besitze. Inzwischen habe einige Regalbretter mit den noch zu lesenden Exemplaren gefüllt und sie in alphabetischer Reihenfolge aufgestellt. Nun lese ich nach und nach meine Bestände weg. Es ist eine schöne Mischung aus Klassikern, älteren Romanen und aktuellen Schriften. Unter anderem stieß ich auf „Der Pferdeflüsterer“ und hatte meine nächste Lektüre in der Hand.

Große Sorgfalt

Es ist nicht das erste Mal, dass ich dieses Buch gelesen habe. Ich kann mich erinnern, dass ich es bereits als Mädchen las. Immerhin ist der Roman schon 1995 erschienen. Das ist nun zwanzig Jahre her. Aber noch heute kann ich mir erklären, warum er damals zum Bestseller avancierte.

Bereits auf den ersten Seiten fällt mir wieder die große Sorgfalt auf, mit der der Autor Nicholas Evans seine Figuren und Situationen zeichnet. Stück für Stück nimmt er den Leser mit auf den Ausritt, der für Judith ihr letzter sein wird. Die fröhliche Gelassenheit der Mädchen wandelt sich jäh in Entsetzen, als sie bei Schnee und Eis mit den Pferden einen Abhang hinunterrutschen und auf eine Fahrbahn geraten, auf der mit erhöhtem Tempo ein Lastwagen unterwegs ist.

Das Unheil nimmt seinen Lauf, Judiths Leben ist nicht mehr zu retten. Grace kämpft tagelang ums Überleben. Doch sie kommt durch, ebenso wie ihr Pferd, obwohl das Pilgirm niemand zugetraut hätte. Was Grace an innerer Verletzung erleidet, zeigt das Pferd durch extremes Verhalten – er lässt niemanden mehr an sich heran, ist sehr verängstigt und verwahrlost zusehends. Pilgrim hat sein Urvertrauen verloren.

Intuitiver Schritt

Die geschäftige Annie, die als Redakteurin immer alles im Griff hat und bestens organisiert ist, wird erst jetzt bewusst, wie wenig gefestigt die Beziehung zu ihrer Tochter ist. Sie lässt ihren Ehemann zurück und fährt mit Pferd und Tochter auf die Reise zu einem sogenannten Pferdeflüsterer. Indem sie Pilgrim zu Tom Booker bringt, versucht Annie wieder Ordnung in ihrem Leben zu schaffen. Ein intuitiver Schritt, der für alle drei – Pilgrim, Annie und Grace – eine enorme Wandlung bedeutet. Einen Sommer verleben Annie und Grace auf der Ranch des Pferdekenners, während Pilgrim therapiert wird. Die labile Mutter-Tochter-Beziehung wird in dieser Zeit mehr als einmal auf die Probe gestellt wird. Schließlich finden die beiden wieder einen Weg zueinander.

Auch beim zweiten Lesen hat mich diese Geschichte sehr beeindruckt. Das langsame Tempo, das Evans seiner Handlung zugesteht, ist niemals langatmig und damit dem Thema angemessen. Es ist eine Veränderung, die Zeit braucht und die räumt Evans seinen Figuren auch ein. Gleichzeitig lässt er zwei verschiedene Welten aufeinanderprallen: das stressige Großstadtdasein und die Ranch auf dem Land. Trotz aller Verschiedenheit von Annies und Toms Leben wird am Ende eines deutlich: Die Sehnsüchte nach Bindung und Vertrauen, die unser Leben prägen, kennen diese Unterschiede nicht. Auf einer zweiten, tieferen Ebene, sind sie sich ähnlicher als man denkt.

Tragisches Ende

Wer die Verfilmung von „Der Pferdeflüsterer“ kennt, wird sich über die Zeichnung der Beziehung zwischen Annie und Tom und auch über das Romanende vielleicht wundern. Mir ging es vor Jahren umgekehrt nicht anders, als ich den Film sah, nachdem ich das Buch gelesen hatte. Ich für meinen Teil finde das Romanende, auch wenn es tragisch ist, konsequent. Aber ich möchte auch nicht zu viel verraten. Stattdessen möchte ich eine Empfehlung aussprechen. Es gibt Bücher, die kann man durchaus mehrfach lesen, „Der Pferdeflüsterer“ gehört definitiv dazu.

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