[Rezension] Jein! – Bindungsängste erkennen und bewältigen von Stefanie Stahl

Sie trennen sich überraschend, obwohl es gerade gut läuft. Sie flüchten sich in Arbeit und Ausreden und verbringen immer weniger Zeit mit dem Partner. Sie machen zwei Schritte vor und drei wieder zurück. Manchmal treiben sie ihren Partner regelrecht dazu, sie zu verlassen. Menschen mit Beziehungsangst haben viele Gesichter. Oft sind sie sich der Ursache ihres widersprüchlichen Verhaltens überhaupt nicht bewusst. Der Ratgeber „Jein! – Bindungsangst erkennen und bewältigen“ von Stefanie Stahl bringt Licht ins Dunkel – und zwar sowohl für die Betroffenen als auch für deren Partner.

An dieser Stelle nehme ich ausnahmsweise mein Fazit vorweg: Für dieses Buch möchte ich eine deutliche Leseempfehlung aussprechen. Wer sich oder seinen Partner in den Zeilen oben bereits erkannt hat oder dies im Folgenden tut, der wird fundierte und sachliche Erklärungen finden, wo er bisher im Dunkeln tappte. Wer hingegen einfache Schubladen erwartet, der ist bei Stefanie Stahl falsch. Oberflächliche Fast-Food-Urteile findet man in ihrem Ratgeber nicht. Nicht jeder Single hat ein Bindungsproblem. Umgekehrt aber ist nicht jeder, der über Jahre eine Beziehung oder gar eine Ehe führt, auch zu einer tiefen emotionalen Bindung fähig. Das wird bei der Lektüre bereits auf den ersten Seiten klar. In unzähligen Beispielfällen zeigt Stahl auf: So unterschiedlich wie die Menschen sind auch ihre individuellen Geschichten. Und dennoch finden sich bestimmte Muster doch immer und immer wieder.

Flucht, Angriff oder Totstellen

Drei verschiedene Strategien hält unser Gehirn für uns bereit, wenn Angst einsetzt: Weglaufen, Aggression oder Stillstand. Wer in Panik gerät, der flüchtet, verteidigt sich oder erstarrt. Solch ureigene Mechanismen sind tief in der Psyche verwurzelt. Klar, denn wenn das nackte Leben bedroht ist, können diese Strategien wahre Retter sein. Problematisch wird es nur dann, wenn erlernte Ängste das Geschehen dominieren, deren Lösung eher in anderen Verhaltensweisen zu finden wäre. Die Angst davor, verlassen und verletzt zu werden oder nicht zu genügen zum Beispiel. Denn diese verbergen sich meist hinter einer Bindungsphobie. Dann führen Flucht und Angriff zwar zum Abbruch und schützen kurzfristig davor, sich ausgeliefert zu fühlen. Nachhaltig lösen können sie das eigentliche Problem hingegen nicht.

In vier Abschnitte ist das Buch von Stefanie Stahl unterteilt. Während sie im ersten Teil die vielen verschiedenen Erscheinungsformen von Bindungsangst beschreibt, widmet sie sich im zweiten deren Ursache. In gut verständlichen Worten erklärt sie, wie unterschiedliche Bindungsstile entstehen und wie das Verhalten der engsten Bezugsperson – meist ist es die Mutter – gerade in den ersten Lebensjahren das spätere Bindungsverhalten eines Menschen bestimmt. Wer sehr früh Erfahrungen von Verlassen werden macht oder ungesunde Beziehungen vorgelebt bekommt, entwickelt meist bereits in den ersten beiden Lebensjahren tiefe Ängste, die sich ein Leben lang auswirken können.

Angst vor Erwartungen

Ob sich die Betroffenen zu absoluten Vermeidern entwickeln oder sich innerhalb einer Beziehung später einfach nicht richtig einlassen können, hängt von vielen Faktoren ab. Im Zentrum steht jedoch immer wieder ein gestörtes Selbstwertgefühl, mangelndes Urvertrauen und das Unvermögen, sich in gesunder Weise abzugrenzen. Bindungsangst und die Angst vor Erwartungen bzw. davor, diesen nicht gerecht werden zu können, gehen laut Stahl häufig Hand in Hand. Dies erklärt auch, warum es vielen Bindungsphobikern so schwerfällt, ihre Bedürfnisse zu spüren, und sie dann plötzlich in radikaler Weise Grenzen setzen, wenn der letzte Tropfen das Fass zum Überlaufen bringt. Ihrem Empfinden nach ist dies die einzige Möglichkeit, das quälende Gefühl von Einengung und Bedrohung zu beenden. Einen Mittelweg zu finden, fällt ihnen schwer.

Dass es gelingen kann, neue Strategien zu lernen, beschreibt Stefanie Stahl in Abschnitt drei. Allerdings nicht ohne zu erwähnen, dass meist Hilfe erforderlich ist, um den Teufelskreis zu durchbrechen. In acht Schritten vollzieht sie den Weg hinaus aus der Bindungsangst, den sie in ihrer Praxis als Psychotherapeutin mit ihren Patienten schon oft gegangen ist.

Tipps für die Partner

Doch nicht nur die Betroffenen, sondern auch deren Partner bekommen Tipps an die Hand. Wer permanent ambivalenten Signalen ausgesetzt ist, kann sich schließlich nicht sicher fühlen. Die Folge: Auch Partner bekommen Angst, nämlich die, den geliebten Menschen zu verlieren. Doch je mehr sie als Reaktion auf den diffusen Rückzug um die Beziehung kämpfen, desto mehr treiben sie den Beziehungsängstlichen meist auch von sich fort. Unabhängigkeit ist hier gefragt.

Stefanie Stahl gelingt es in diesem Buch, ein äußerst komplexes Thema auch für den psychologisch weniger geübten Leser greifbar zu machen. Gleichzeitig räumt sie mit Vorurteilen auf. Der These, dass grundsätzlich nur die Menschen an bindungsängstliche Partner geraten, die selber ein Bindungsproblem haben, stimmt sie nicht zu. Auch nimmt sie ihren Lesern ihre Entscheidungen nicht ab. Ob es ratsam sei, sich aus einer bindungsphobischen Beziehung ganz zu lösen oder sie aufrecht zu erhalten, schreibt sie nicht. Für beide Fälle aber gibt sie betroffenen Partnern Rüstzeug mit auf den Weg.

Wer selber an Bindungsangst leidet, wird die Lektüre unter Umständen als quälend empfinden und geneigt sein, sie abzubrechen. Selbsterkenntnis als erster Schritt aus dem Dilemma ist eben unvermeidbar – und die schmerzt manchmal. Dieses Buch kann auf dem Weg in ein neues Leben eine große Hilfe sein. Ein Wundermittel aber ist es nicht.

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