Vieles ist über das Todesarten-Projekt von Ingeborg Bachmann geschrieben worden. „Malina“, der erste von ursprünglich drei geplanten Teilen, erschien 1971 und ist seitdem zum Kultubuch avanciert. Als „Todesart“ bezeichnete die Autorin alles, was im zwischenmenschlichen Bereich Schaden an den Menschen anrichtet.
Ihre weibliche Hauptfigur in „Malina“ stattete sie mit einem männlichen Alter Ego aus. Über den Namen dieses – man kann fast sagen: zweiten Protagonisten hat Sandra Boihmane bereits im vergangenen Jahr ihre Arbeit „Malina – Versteck der Sprache“ vorgelegt.
Verbirgt sich hinter „Malina“ ein Wortspiel, das eigentlich „animal“ bedeutet? Oder ist der Name Hinweis auf die Herkunft des Charakters, da sich die wörtliche Übersetzung „Himbeere“ aus dem Slawischen ableitet? Immer wieder finden sich in der Sekundärliteratur diese oder ähnliche Deutungsmuster.
Sandra Boihmane geht all diesen Interpretationen nach und entwickelt doch ihre ganz eigene Sicht: Zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs nämlich bezeichnete eine „Malina“ in der osteuropäischen Gaunersprache ein Versteck für Menschen, die sich vor den Nazischergen verbargen, da sie um ihre Gesundheit und ihr Leben fürchten mussten. Oft konstruierte man derartige Verstecke zwischen zwei Mauern in der Wand.
Orte des Sterbens und des Überlebens
Die Sichtbarmachung dieser „weitgehend verdrängten Erinnerungsorte“ und „konspirativen Ecken“ bildet den Kern der Untersuchung, die in historischen Quellen und Berichten Hinweise aufspürt und „Malina“ als Chiffre enttarnt. Der Roman sei „ein portatives Schrift-Denkmal“, schreibt die Autorin. „Es ruft die Orte des Sterbens und des Überlebens unerwünschter Menschen in Erinnerung.“
Bedenkt man, dass sich Bachmann zeitlebens um eine Sprache bemühte, um die Gräuel der Nazizeit in Worte zu fassen, fügt sich Boihmanes Ansatz hier lückenlos ein. „Malinas sind als angstbesetzte, ambivalente Orte des Grauens im Gedächtnis der Überlebenden geblieben, da man nie wusste, ob das Versteck eine Rettung oder eine Falle war“, schreibt sie.
Nicht nur der Name des Alter Egos deutet darauf hin, auch das Verschwinden der namenlosen weiblichen Hauptfigur am Ende des Romans: „Das ‚Verschwinden‘ in der Wand stellt eine grausame Art des Überlebens und Sterbens dar.“
Gaunerlieder und Zeitzeugenberichte
Liest sich die vorliegende Arbeit eingangs noch etwas zäh, so nimmt sie spätestens in der zweiten Hälfte Fahrt auf. Von Gaunerliedern führt die Autorin über das kriminelle Milieu der Kriegs- und Nachkriegszeit bis hin zu Zeitzeugenberichten von Holocaustüberlebenden. Da es sich hier um eine wissenschaftliche, keine populärwissenschaftliche Arbeit handelt, empfiehlt sich das Buch freilich nicht als reine Entspannungslektüre.
Bachmann-Kenner aber und solche, die Freude an der Aufdeckung historischer Zusammenhänge im literaturwissenschaftlichen Kontext haben, finden in der akribisch geführten Argumentation Sandra Boihmanes einen wahren Schatz vor.