Bringt uns das Leben in Situationen, in denen wir uns entscheiden müssen, so reagieren wir sehr unterschiedlich darauf. Dinge in unserer Umgebung ändern sich, Menschen kommen und gehen. Nicht immer ist dies angenehm, mitunter sogar sehr schmerzhaft. Ob wir uns im Schmerz suhlen oder Verantwortung übernehmen, um etwas an den Umständen zu verändern, steht jedem von uns frei. Da trennt sich die Spreu vom Weizen beziehungsweise die abhängige von der unabhängigen Persönlichkeit.
Betroffenheits- und Einflussbereich
Eine Opferpersönlichkeit fühlt sich immer abhängig. Oft selbst von den Dingen, die sie selber beeinflussen könnte. Der Autor Stephen R. Covey unterscheidet in seinen Büchern zur aktiven Lebensgestaltung zwei Bereiche, die auf unser Leben – und damit auch auf unsere Entscheidungen – Auswirkungen haben: den Betroffenheits- und den Einflussbereich.
Unter Ereignissen der Kategorie Betroffenheitsbereich versteht er alles, was zwar einen direkten Einfluss auf den Betroffenen hat, von diesem in der Regel aber nicht beeinflusst werden kann. Gesetzliche Regelungen fallen darunter, die Benzinpreisgestaltung oder der Wetterwechsel.
Jene Umstände hingegen, auf die ein Betroffener einwirken kann, indem er selbst handelt, eine Handlung unterlässt oder andere zu Handlungen bewegt, fasst Covey unter dem Einflussbereich zusammen. Die richtige Kleidung bei Regen oder eine kraftstoffsparende Fahrweise zum Beispiel kann jeder Mensch selbst wählen.
Das Opfer- und das Gestalterprinzip
Covey leitet aus seinen Grundannahmen zwei unterschiedliche Handlungsprinzipien ab, die aus diesen Wahrnehmungs- und Verhaltensprozessen hervorgehen: das Opferprinzip und das Gestalterprinzip. Je nachdem, auf welchen Bereich du dich in deiner Wahrnehmung konzentrierst, tendierst du in deinem Verhalten eher zu der einen oder der anderen Seite.
Während die Selbstwahrnehmung als Gestalter dazu führt, aktiv in Situationen mögliche Handlungsspielräume auszufüllen, und es gleichzeitig ein Dazulernen begünstigt, führt die Opferhaltung in der Regel zur Erstarrung von Prozessen und selten zu positiven Veränderungen. Eine etwas ausführlichere Beschreibung der Theorie von Covey findet sich hier.
Ich möchte so weit gehen, zu behaupten, dass sich dieses Modell auch auf die Art und Weise, wie wir Beziehungen leben und gestalten, anwenden lässt. Ob ich mich von dem unangemessenen Verhalten (beispielsweise emotionaler Erpressung) meines Gegenübers beeinflussen lasse, ob ich meine Bedürfnisse deutlich mache und gegebenenfalls in der Lage bin, eine Beziehung loszulassen, die sich als ungut erweist, hängt maßgeblich davon ab, ob ich Verantwortung für mich und mein Handeln übernehme.
Sich abzugrenzen bedeutet für mich in allererster Linie, die Bedürfnisse anderer nicht über meine eigenen zu stellen. Zu keinem Zeitpunkt bin ich verantwortlich für die Gefühle anderer. Für mein Handeln, meine Unterlassungen und die Art, wie ich die Welt interpretiere hingegen schon. Diese Verantwortung hat jeder Mensch für sich selbst zu übernehmen und sein Leben entsprechend zu gestalten.
Sich mit Achtsamkeit begegnen
Vor allem Menschen, die aus emotional und sozial instabilen Verhältnissen stammen, fällt es oft schwer, sich aus ihrer Opferrolle heraus zu begeben. Sie suchen Gründe für ihr schlechtes Gefühl in äußeren Umständen und im Verhalten anderer. Der Gestalter nimmt die Gegebenheiten an. Das heißt nicht, dass er nicht auch Gefühle von Wut, Trauer oder Enttäuschung leben kann – dies sollte er sogar! -, allerdings macht er sich nicht abhängig von den Entscheidungen, Erwartungen und Sichtweisen der anderen. Hier liegt der entscheidende Unterschied.
Einem „Ich fühle mich furchtbar, weil mein Chef nichts ändert“ setzen sie eigene Entscheidungen entgegen, beispielsweise indem sie selbst das Gespräch suchen, sich für ihre Ziele einsetzen oder vielleicht sogar die Arbeitsstelle wechseln. Gestalter haben in der Regel auch weniger Schwierigkeiten damit, Hilfe von außen anzunehmen.
Auch in partnerschaftlichen Konflikten ruhen sie sich nicht in ihrem Leiden aus und warten auf die Erlösung von außen. Ihr Selbstwertempfinden speist sich nicht aus der Zuneigung des Partners, sie begegnen sich selber liebevoll und aufmerksam. Sie setzen sich aktiv in Gesprächen auseinander, stehen für ihre Bedürfnisse ein und machen sich unabhängig vom Erwartungsdruck.
Angst vor Zurückweisung
Ob du selbst eher in der Opferrolle oder der Gestalterrolle verhaftet bist, zeigt sich unter anderem auch daran, ob du dich wiederholt in Gefühlen von Abhängigkeit wiederfindest. Wann immer du den Eindruck hast, nichts an deiner Situation ändern zu können, hinterfrage dieses Gefühl und versuche zu unterscheiden, welche Gegebenheiten nach Covey tatsächlich unbeeinflussbar sind und welche nicht.
Du wirst feststellen, dass Vieles von dem, das du als unveränderbar wahrnimmst, gar nicht dem entspricht. Verlust- und Versagensängste, Angst vor Ablehnung und Zurückweisung spielen oft eine viel größere Rolle. Indem du dich in die Opferrolle begibst, gestaltest du dein Leben und die dich umgebenden Situationen mit, allerdings nicht auf konstruktive Weise.
In deinen Ängsten fühlst du dich dann vielleicht bestätigt („War ja klar, dass das wieder nicht klappt“, „Wie gut, dass ich mich nicht darauf eingelassen habe“), oft aber greift hier das Prinzip der sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Beispiel: Aus lauter Angst vor Ablehnung verhältst du dich so, dass andere sich am Ende tatsächlich auch ablehnend dir gegenüber verhalten.
Die gute Nachricht ist: Du hast die Wahl, ob du lieber als Opfer oder als Gestalter dein Leben bestreiten möchtest. Im Kern ist es eine Frage der Selbstliebe.