[Rezension] Gut gegen Nordwind – Daniel Glattauer

Ein Zufall spielte mir auf einem Tisch reduzierter Ware dieses Büchlein in die Hände. Ein Zufall ist es auch, der die beiden Protagonisten dieses besonderen Romanes zusammenführt.

Emmi Rothner möchte eigentlich nur eines, ihr Zeitschriftenabo endlich kündigen. Ein verirrter Buchstabe lenkt ihre Nachrichten jedoch nicht an die Redaktion des Like-Magazins, sondern zu Leo Leike. Leo antwortet zunächst sehr sachlich und knapp. Als sich nach Monaten weitere Versehensmeldungen bei ihm einfinden, entwickelt sich aus der virtuellen Zufallsbekanntschaft ein aufregender, humorvoller und sinnlicher Dialog, der seinesgleichen sucht.

Die Protagonisten

Da wäre zunächst also Emmi, die Mittdreißigerin, Mutter zweier Stiefkinder und ihren eigenen Worten nach „glücklich verheiratet“. Auf der anderen Seite der Leitung sitzt Leo, der Bindungslose, zwei Jahre älter als Emmi und in eine Art Dauer-Re-und-Entliebung mit einer gewissen Marlene involviert. Scheinbar braucht Leo Emmi zunächst mehr als sie ihn, stellt sie doch ihr Leben keineswegs in Frage.

Im Gegenteil, ihre Beziehung zu Ehemann Bernhard beschreibt sie als intakt und erfüllend, ein wenig alltäglich vielleicht, ohne Abenteuer, aber im Grunde genommen stabil. Leo hingegen befindet sich in vollkommenem emotionalen Chaos. Wieder einmal hat er sich von Marlene getrennt, wieder einmal kommt er nicht von ihr und sie nicht von ihm los. Da scheint es nur natürlich, dass er nach dem Strohhalm Emmi greift, der sich ihm bietet.

Fremdheit und Intimität

Die Folge dieser zufälligen Begebenheit ist ein über Monate andauernder Austausch. „Es beginnt ein außergewöhnlicher Briefwechsel, wie man ihn nur mit einem Unbekannten führen kann“, verrät der Klappentext. „Auf einem schmalen Grat zwischen totaler Fremdheit und unverbindlicher Intimität kommen sich die beiden immer näher – bis sie sich der unausweichlichen Frage stellen müssen: Werden die gesendeten, empfangenen und gespeicherten Liebesgefühle einer Begegnung standhalten? Und was, wenn ja?“

Gerade dieses fortwährende Fragen, Sehnen und dann doch wieder Herauszögern ist es, das die Lesespannung von der ersten bis zur letzten Seite aufrechterhält.

„Spannung ist nicht der Mangel an Vollkommenem, sondern das stets Zusteuern darauf und das wiederholte Festhalten daran“, schreibt Emmi.

„Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen“, romantisiert Leo. „Schreiben ist küssen mit dem Kopf.“

Projektionen und Sehnsüchte

Was eignet sich besser für die Projektionen unerfüllter Sehnsüchte als der virtuelle Raum? Es ist vor allem die Anonymität, die es beiden ermöglicht, ihrer Realität mit all ihren Ängsten und Unzulänglichkeiten zu entfliehen. Alles, was nicht ins Bild passt oder es zerstören könnte, wird systematisch ausgeblendet.

Auf der einen Seite schaffen Emmi und Leo einen Ort, an dem sie den anderen genau so zu sehen vermögen, wie sie ihn für sich brauchen. Auf der anderen Seite sind sie schon nach kurzer Zeit süchtig nach dem, was sie für das reale Gegenüber halten, wollen mehr und mehr voneinander erfahren. Allmählich beginnt auch Emmis heile Fassade zu bröckeln. Doch obgleich es reichlich Anlass gibt, das erdachte Bild an der Realität zu messen, ist beiden der Reiz des Unbekannten schier unüberwindbar.

Fragile Beziehung

Die Emotionen dieser virtuellen Welt kommen mit einer solch realen Intensität daher, dass es einem förmlich die Schuhe auszieht. Wo sie im wahren Leben scheitern, bauen sich Emmi und Leo ein vermeindlich sicheres Netz im Netz. Doch die Romantikkonstruktion der beiden Liebenden ist so fragil, dass ein falsches Wort, ein einziger Buchstabe sie zum Zusammensturz bringen könnte. „Gut gegen Nordwind“ ist eine Geschichte, die von Sehnsucht, aber auch von tiefer Einsamkeit erzählt, ohne ihre Figuren zu entblößen.

Mein Urteil: Was für ein kluges Buch! Was für ein ehrliches und anrührendes Buch! Bravo!

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